„Das Ganze war relativ aufwändig“ – Michael Rotert über die erste E-Mail in Deutschland

Am 3. August 1984 begann in Deutschland das Zeitalter der digitalen Kommunikation: An der Universität Karlsruhe kam die erste E-Mail auf einem deutschen Computer an. Empfänger dieser historischen Nachricht war Professor Michael Rotert, der damalige Leiter des Fachbereichs Informatik. Im Interview berichtet er über die technischen Herausforderungen und Erfolge jener Zeit.

12. Juli 2024 von Tech Blog

Historischer Termin-Eintrag im Taschenkalender von Michael Rotert aus 1984. Foto: United Internet Media

Herr Professor Rotert, wenn Sie an Ihr E-Mail-Postfach denken, was fällt Ihnen am meisten auf?
Das E-Mail-Postfach geht mittlerweile weit über reine Kommunikation hinaus. Immer mehr Firmen gehen dazu über und schicken neben Newslettern auch Rechnungen per E-Mail. Die digitale Form ist mir lieber. Ich bin viel unterwegs und behalte so einfacher den Überblick. Allerdings würde ich mir wünschen, dass die Unternehmen ihre Nachrichten für die E-Mail-Provider besser kennzeichnen. Einige Rechnungen landen im Spam-Ordner – das ließe sich durch saubere technische Programmierung der Rechnungs-Mails relativ einfach vermeiden.

Die erste E-Mail, die Sie vor 40 Jahren am 3. August 1984 an der Karlsruher Hochschule K.I.T. empfangen haben, hatte sicherlich einen anderen Hintergrund.
Damals lief ein Projekt, die Universität an die internationalen Netze anzuschließen. Dazu hatten wir zwei interessante Möglichkeiten. Das ‚hochwertigere‘ Netz war das Arpanet, der Vorläufer des heutigen Internets. Das zweite Netz war das sogenannte Usenet, auch bekannt als Unix User Network. Dort gab es hauptsächlich Informationen zu Software und Rechnern von Atari und IBM. Wir haben uns beide Möglichkeiten angeschaut, uns aber relativ schnell für das Arpanet entschieden.

Die erste E-Mail hatte also ein wissenschaftliches Ziel.
Exakt. Und ein rein praktisches: In den frühen 80ern stand unter den US-Artikeln eine E-Mail-Adresse mit dem Zusatz: ‚Der Autor ist über folgende Adresse zu erreichen.‘ So etwas wollten wir auch. Allerdings wollten wir keine Usenet-Adressen, weil uns das technisch nicht gefallen hat.

Inwiefern?
Das Usenet war aufgebaut wie eine Kette. Man musste alle Hosts zwischen dem Start und dem Endpunkt adressieren. Man war immer darauf angewiesen, dass die dazwischenliegenden Hosts die Nachricht weiterleiten. Das Arpanet war anders aufgebaut. Über einen Routing-Ansatz: Die Nachricht hat sich selbst ihren Weg gesucht. Jedes Datenpaket trägt seine eigene Adresse mit sich. An den jeweiligen Knotenpunkten wird entschieden, wie sich das Ziel am schnellsten erreichen lässt – das läuft vollautomatisch. Es war also klar: Wir wollten ins Arpanet, aber das ging gar nicht so einfach. Das Arpanet wurde für das Militär entwickelt und öffnete sich erst langsam.

Es war also kein Plug & Play.  
Nein, wir mussten zunächst jemanden suchen, der uns ins Netz lässt. Es gab damals das Computernetzwerk CSNET, das Computer Science Network, das der Forschung vorbehalten war. Also haben wir telefoniert und rumgefragt und stießen auf die International Academic Network Corporation, das waren weltweit etwa zwölf Leute und Teil des CSNET. Der wichtigste Vertreter war Larry Landweber von der University of Wisconsin, der die International Academic Network Corporation initiiert hatte. Hier kam die E-Mail ins Spiel, denn das CSNET funktionierte mail-only. Über dieses Network kam dann die erste digitale Nachricht in Karlsruhe an – das Ganze war relativ aufwändig.

Mit dem Telefonat und der Bitte um Aufnahme war es nicht getan?
Nein, da gab es auch ein persönliches Treffen in Paris. Dort haben wir vereinbart, dass sie die Software für den Netzzugang per Post schicken. Das hat natürlich auch noch ein paar Tage gedauert. Zudem haben mir die US-Kollegen ein paar nützliche Tipps gegeben, denn sie kannten sich sowohl bei Soft- als auch Hardware aus. Damals gab es noch nicht so viele digitale Geräte wie heute. Die Maschine kannten sie, diese kam aus den USA und hieß VAX 11/750. Ein nagelneuer 32-Bit-Rechner.

Weniger leistungsfähig, aber bestimmt teurer als heutige Rechner.
Das Gerät hat damals zwischen 800.000 und 900.000 DM gekostet. Eine wahnsinnig teure Anschaffung für die Hochschule.

Sie mussten also auf die Post mit der Software warten.
Irgendwann kam das Band mit der Phone-Net-Software an, die damals in Pascal programmiert war. Das Programm war notwendig, um eingehende Mails zu empfangen und zu verwalten – einschließlich der Header ‚Received from‘ oder ‚Sent by‘. Die Software habe ich dann auf die Maschine aufgespielt, getestet und mich damit vertraut gemacht.

Konnte es dann losgehen?
Fast. Zunächst gab es noch ein Problem. Wie komme ich rüber nach Amerika? Auch bei diesem Punkt hatten wir zwei Möglichkeiten: Erstens eine Standleitung, die damals aber eine sechsstellige Summe pro Monat gekostet hat. Viel zu teuer für uns. Wir haben dann Datendienste der Deutschen Bundespost genutzt, das sogenannte X 25 bzw. Datex P. Dieser Service war international weitgehend genormt. Den Treiber für die Karte musste ich nur leicht modifizieren, damit mich die Amis auch verstanden haben.

Welche Motivation hatten die US-Amerikaner, Sie ins Netz zu lassen?
Damals ging es vor allem um internationale Vernetzung. Das war das spezielle Forschungsgebiet von Larry Landweber. Um die fortschreitende internationale Vernetzung zu beobachten und zu erforschen, mussten sie auch Leute reinlassen. Deshalb hat sich das Arpanet auch durchgesetzt, weil es vom Ansatz her offener war – und auch gar nicht so teuer, wenn man mit den Amerikanern in Kontakt war. Die Leitungen innerhalb der USA waren damals von der National Science Foundation gesponsert, was unserem Bildungsministerium entspricht. Die Infrastruktur konnten wir mitnutzen.

Blieben noch die Kosten für die transatlantische Verbindung.
Genau. Interessante Anekdote dazu: Angerufen haben immer nur wir aus Karlsruhe – wir haben also die Leitung aufgebaut. Deshalb sah das Mail-Protokoll folgendermaßen aus: Bei mir waren die Mails aus Deutschland in Wartestellung, wurden dann abgeschickt. Sobald diese fertig waren, hat die Software die Nachrichten aus den USA rübergeholt. So gab es immer einen zeitlichen Verzug in den Nachrichten aus Übersee.

Die Nachrichten waren also immer die Nacht über unterwegs, bis Sie das Protokoll aktivierten. War das auch so bei der allerersten E-Mail am 3. August 1984?
Genau. Um 10:14 Uhr kam die erste E-Mail bei mir an. Es gibt noch den originalen Ausdruck davon. Von einer nahezu Echtzeit-Übertragung waren wir damals weit entfernt. Das musste aber auch nicht sein, weil das Netz damals rein wissenschaftlicher Natur war. Es waren also nur Universitäten und Hochschulen angeschlossen. Von Unternehmensseite durften nur Forschungsabteilungen das CSNET nutzen. In Deutschland war die erste angeschlossene Firma übrigens die BASF.

 

E-Mail-Verzeichnis: In Deutschland war nur die Karlsruher Universität dabei. Foto: United Internet Media

 

War es damals abzusehen, dass sich das Netz und das Mailing auch für kommerzielle und private Nutzung öffnet?
Erstmal gar nicht. Erst 1989 hat die National Science Foundation beschlossen, dass sie aufgrund der hohen Kosten nicht mehr die Leitungen sponsern wollten. Damit war der Weg offen für die Privatwirtschaft, die dann die Kosten übernahm. Ich denke, dass der zeitliche Zusammenhang mit der Öffnung gegenüber dem Osten kein Zufall war. Das Feindbild war weg, und so konnte sich das Netz weiter öffnen. 1991 wurden von CERN in Genf dann die WWW-Protokolle veröffentlicht, so dass jeder diese nutzen konnte.

Vor 40 Jahren kam die erste E-Mail an. Blicken Sie nochmals 10 Jahre in die Zukunft. Was wird sich ändern?
Große Potenziale sehe ich noch in der Organisation der Ordner-Struktur, hier gibt es sicherlich Fortschritte, um das digitale Archiv der User besser beherrschbar zu machen. Auch der Spam-Schutz bleibt ein wichtiges Thema. Die E-Mail wird aber weiter ihren festen Platz in der digitalen Kommunikation haben. Der große Vorteil der E-Mail ist, dass sie System-, Rechner- und Provider-unabhängig ist. Damit hat sie beste Voraussetzungen für die Zukunft.

Das Interview in voller Länge: United Internet Media Vermarkterblog.

Im Podcast mit IONOS gibt es weitere Informationen zu 40 Jahren E-Mail in Deutschland:
http://inside.ionos.de/51-40-jahre-email-in-deutschland

Michael Rotert im Interview. Foto: United Internet Media.

 

Professor Rotert setzt sich durch sein Engagement in verschiedenen nationalen und internationalen Gremien intensiv für den Erfolg des Internets in Deutschland ein. Er verfügt über langjährige Erfahrung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie und war als Gutachter für die EU, UN und das U.S. Department of Commerce tätig. Ferner war er Industriesprecher der deutschen Delegation der G8 Cybercrime Gruppe. Professor Rotert ist Ehrenpräsident des eco – Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V. und Honorary Spokesman von EuroISPA (European Internet Service Provider Association), dem europäischen Dachverband.

Neben seinen beruflichen Erfahrungen, die er unter anderem als Gründer und Geschäftsführer bei Xlink, einem der ersten Internet-Provider in Deutschland, als Geschäftsführer und Vorstand verschiedenster Internet-Firmen sammelte, verfügt er über ein umfassendes akademisches Know-how. Vor seinem Start bei Xlink war Michael Rotert an der Universität Karlsruhe tätig. 1985 konnte er dort den ersten Internetanschluss einer deutschen Hochschule realisieren.

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